Im Atelier II Der Trick mit der
Rückenfigur

Der Wanderer steht im Zentrum. Über seine Identität spekulieren Kunsthistoriker*innen seit Jahrzehnten: Bis heute ist nicht bekannt, welche Mission er hat oder wer er ist.

Friedrich lässt die Figur ganz bewusst offen: Vielleicht ist er einfach nur ein Wanderer, der die Erhabenheit der Natur erlebt. Vielleicht ist er ein zuvor verstorbener Freund, an den das Bild erinnern soll. Einen Hinweis gibt Friedrich: Der grüne Mantel des Wanderers könnte auf einen Förster hinweisen. Vielleicht deutet die heroische Pose auch auf einen deutschen Freiheitskämpfer hin: Damit würde Friedrich seine Unterstützung der deutschen Freiheitsbewegung in den 1810er Jahren ausdrücken.

Diese Uneindeutigkeit der Rückenfigur ist einer der großen Tricks, warum das Bild bis heute so erfolgreich ist: Es bleibt rätselhaft.

Wir können uns in die Rückenfigur hineinversetzen, in Fotos selbst ihren Platz einnehmen – und später beim Anschauen der Fotos daran erinnern, wie wir an diesem Ort standen.

Heute finden viele:
So offen ist die Rückenfigur nicht.

Das Bild kann nicht-weiße, nicht-männliche Identitäten und alle diejenigen ausschließen, die nicht so einfach auf einen Berg steigen können.

Der amerikanische Künstler Kehinde Wiley greift diese Problematik auf: Er übernimmt Friedrichs Bild fast exakt – allerdings ist sein Wanderer Schwarz und trägt Kleidung von heute. Wileys Gemälde ist zudem monumental groß, größer als ein barockes Herrscherbildnis. Auch ein politisches Statement!

Gemälde von Kehinde Wiley mit dem Titel „The Prelude (Babacar Mané)“ von 2021. Es zeigt eine Person of Colour in Rückenansicht auf einem Felsen stehend, die unter sich auf eine Berglandschaft blickt. Das Bildmotiv gibt das Gemälde „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich neu interpretiert wieder.
Kehinde Wiley, The Prelude (Babacar Mané), 2021, Öl auf Leinwand, 387,2 x 305 cm, Rennie Collection, Vancouver, © Kehinde Wiley. Courtesy the artist and Stephen Friedman Gallery, London
Fotografie von Elina Brotherus mit dem Titel: „Wanderlust“ von 2020. Sie zeigt eine blonde weiße Frau in Rückenansicht auf einem Felsen, die unter sich auf eine weite Fjord-Landschaft blickt. Das Bildmotiv zitiert das Gemälde „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich.
Elina Brotherus, Wanderlust, 2020, Ed. 2/6, Giclée-Print, 120 x 160 cm, Miettinen Collection, Berlin–Helsinki, © Elina Brotherus / VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Während der Covid-19-Pandemie war die finnische Künstlerin Elina Brotherus – wie viele – oft in der Natur unterwegs. Dabei entstand dieses Kunstwerk, in dem sie mit einem Wanderer-Beutel in Wanderer-Haltung auf einem Felsen posiert. Die Welt ist heute eine andere – und Friedrichs Wanderer ist Popkultur.