Wanderer über dem Nebelmeer
Wanderlust
1
Aufbruch
Allein auf dem Gipfel,
den Blick in die Weite
Da musst du hin – für das perfekte Foto!
Der Wind weht dir um die Nase, du bist stolz, den Aufstieg geschafft zu haben. Du genießt den Ausblick, der dich irgendwie sehnsüchtig macht, und fragst dich, was wohl unter dem Nebel liegt…
In dem Bild Wanderer über dem Nebelmeer kommen all diese Erfahrungen zusammen. So wurde es zu einem der meist zitierten Kunstwerke überhaupt. Reisende nutzen es immer wieder als Inspiration für ihre Fotos. Der Künstler Caspar David Friedrich malte es ungefähr 1817.
Auch den Maler selbst packte regelmäßig das Fernweh. Seine Wanderlust beschrieb er so:
Auszug aus einem Brief von Friedrich an seinen Bruder Heinrich und den Freund Joachim Praefke, undatiert, um 1803
Friedrichs Begeisterung und Vorfreude können wir auch heute noch nachfühlen. Reisen ging vor 200 Jahren aber anders: Zug und Dampfschiff kamen erst langsam auf, Flugzeuge gab es noch nicht.
Seit der Maler um 1800 nach Dresden gezogen war, erkundete er die Umgebung zu Fuß. Manchmal leistete er sich eine Fahrt per Pferdekutsche ins Elbsandsteingebirge. Das Gebiet ist auch als Sächsische Schweiz bekannt und liegt an der Grenze von Sachsen und Tschechien.
Friedrich ging mit der Zeit: In der Natur sein und Wandern als Freizeitbeschäftigung kamen um 1800 in Mode. Einen anderen Reisetrend machte der Maler nicht mit: Er reiste nie nach Italien, obwohl dieses Land bei vielen seiner Künstlerkolleg*innen das erklärte Sehnsuchtsziel war.
Der Tourismus etablierte sich schnell und profitierte von der technischen Entwicklung: 1839 war die Sächsische Schweiz erstmals auch per Dampfschiff aus Dresden erreichbar, eine Verbindung, die auch heute noch in Betrieb ist. Ob Friedrich je damit gefahren ist, wissen wir nicht. Spätestens seit seinen beiden Schlaganfällen 1835 und 1837 reiste er jedenfalls kaum noch.
2 Auf Reisen Ins Unbekannte
Häufig wanderte Friedrich allein, manchmal auch in Begleitung von ein, zwei Freunden. Regelmäßig unterwegs war er mit Georg Friedrich Kersting, einem befreundeten Maler. 1810 befanden sie sich auf „Fußreise ins Riesengebirge“ im heutigen Tschechien – das notierte Kersting rechts unten auf dieser Zeichnung.
Friedrich wollte bei diesen Ausflügen vor allem inspiriert werden. Er bewunderte die Natur, ihre Kräfte und ihre Schönheit sehr und forschte ihren Formen auch bis in kleinste Details nach. Dabei sah er auch im Kleinen das Große, Universelle. Als gläubiger Christ wollte Friedrich durch das Wandern auch der göttlichen Schöpfung näherkommen und seinen Glauben neu erfahren.
Besonders verbreitet war das Wandern in intellektuellen Kreisen Europas, zum Beispiel bei den Romantiker*innen. Ihre Zeit war geprägt von wechselnden politischen Verhältnissen, der beginnenden Industrialisierung und den Ideen der Aufklärung, die das (männliche, weiße) Individuum zum freien Denken aufriefen. Durch das Wandern suchten sie eine Hinwendung zur Natur, zum Sinnlichen und Gefühlsmäßigen. Auch für die Romantiker*innen war der Abstand vom Alltäglichen wichtig, um neue Erfahrungen sammeln zu können. In Friedrichs Kunst findet sich das in Teilen wieder, weshalb seine Werke heute häufig als Inbegriff der deutschen Romantik gelten.
In der rechten unteren Ecke des Blattes steht »Prf. Caspar David Friedrich / Gezeichnet von / G. Kersting 1810. / Malrast (?) in Meißen auf / d. Fußreise ins Riesengebirge«
Zur Zeit Friedrichs stand die Begegnung mit der Natur als Reisemotivation weit oben. Der Wandertourismus boomte. Das Ziel war eine echte Grenzerfahrung: das Gefühl des Erhabenen.
Unermesslich groß, überwältigend, bedrohlich: So kann ein Ausblick vom Gipfel wirken. Als wandernder Mensch fühlst du dich davon vielleicht überfordert, klein, ohnmächtig gegenüber der Natur. Der Abgrund ist nur einen Schritt weit entfernt. Und gleichzeitig kann es schön sein, sich diesem Moment auszusetzen. Dann stellt sich das schaurig-wohlige Gefühl der Erhabenheit ein.
Nach dem Philosophen Immanuel Kant bedeutet das Erhabene: Erst in dieser Grenzerfahrung kann der Mensch seine Überlegenheit wahrnehmen, nämlich durch die Vernunft, das eigenständige Denken. Nur durch das Wissen, dass dir an deinem Standpunkt nichts passieren kann, kannst du die Aussicht genießen. Deshalb steht auch Friedrichs Wanderer ganz selbstbewusst im Bild.
Friedrich hat dieses Gefühl von Erhabenheit beim Wandern sicher auch durchlebt – und in das Bild übertragen
3 In der Natur Details festhalten
Vielleicht hattest du auf einer Reise auch mal so einen erhabenen Anblick vor dir – und warst dann enttäuscht, als der auf den Fotos nicht so aussah?
Fotografie gab es zu Friedrichs Zeit nicht, stattdessen zeichnete er. Er versuchte gar nicht, das große Ganze, das Erhabene künstlerisch zu erfassen, sondern konzentrierte sich lieber auf die Details. Wenn er ein Motiv fand, das ihn interessierte, setzte er sich – vielleicht auf einen Baumstumpf. Er beobachtete genau, zeichnete akribisch und erforschte Sträucher, Felsen, Bergketten mit feinen Linien.
Gegenüberstellung von Zeichnung und Gemäldedetail
Caspar David Friedrich, Felsige Kuppe, 3. Juni 1813, Bleistift auf Velin (beschnitten), 11,1 x 18,6 cm, Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Später im Atelier fügte Friedrich diese Einzelstudien zu einem neuen Gesamtbild zusammen. Seinen Arbeitsprozess beschrieb er folgendermaßen:
Erst wenn Friedrich sein Bild genau vor Augen hat, beginnt er zu malen. Häufig fügte er Zeichnungen seiner Reisen zusammen und erfand Neues hinzu. Eine Art Photoshop im Kopf also.
Im Wanderer verstecken sich viele seiner Naturzeichnungen, die er im Elbsandsteingebirge anfertigte. Kunsthistoriker*innen können heute noch recht genau bestimmen, von wo aus Friedrich welche Zeichnungen anfertigte.
Weil die einzelnen Elemente der Landschaft neu zusammengefügt, komponiert werden, heißt sie auch Kompositlandschaft.
Als Ganzes gibt es diese Landschaft aber nicht.
Vielleicht ist es sogar genau das, was an seinen Gemälden heute besonders fasziniert: Das Verhältnis von seinen Beobachtungen, seinen Vorstellungen und dem, was er schließlich als Bild daraus macht. Ein neues Bild, aus verschiedenen Bildern zusammengesetzt – das begegnet dir sicher heute auch öfter, Stichwort Künstliche Intelligenz und Fake News…
4 Im Atelier I Zum Bild formen
Wie funktioniert ein gutes Bild? Wie muss es komponiert sein? In seinen Bildern nutzte Friedrich Gestaltungsprinzipien, die sie besonders harmonisch erscheinen lassen sollten. Die Hilfsraster im digitalen Kamerabildschirm greifen heute auf dieselben Regeln zurück.
Dazu gehört zum Beispiel der Goldene Schnitt, ein genau berechnetes Seitenverhältnis: a ÷ b = (a + b) ÷ a
5
Im Atelier II
Der Trick mit der
Rückenfigur
Der Wanderer steht im Zentrum. Über seine Identität spekulieren Kunsthistoriker*innen seit Jahrzehnten: Bis heute ist nicht bekannt, welche Mission er hat oder wer er ist.
Friedrich lässt die Figur ganz bewusst offen: Vielleicht ist er einfach nur ein Wanderer, der die Erhabenheit der Natur erlebt. Vielleicht ist er ein zuvor verstorbener Freund, an den das Bild erinnern soll. Einen Hinweis gibt Friedrich: Der grüne Mantel des Wanderers könnte auf einen Förster hinweisen. Vielleicht deutet die heroische Pose auch auf einen deutschen Freiheitskämpfer hin: Damit würde Friedrich seine Unterstützung der deutschen Freiheitsbewegung in den 1810er Jahren ausdrücken.
Diese Uneindeutigkeit der Rückenfigur ist einer der großen Tricks, warum das Bild bis heute so erfolgreich ist: Es bleibt rätselhaft.
Wir können uns in die Rückenfigur hineinversetzen, in Fotos selbst ihren Platz einnehmen – und später beim Anschauen der Fotos daran erinnern, wie wir an diesem Ort standen.
Heute finden viele:
So offen ist die Rückenfigur nicht.
Das Bild kann nicht-weiße, nicht-männliche Identitäten und alle diejenigen ausschließen, die nicht so einfach auf einen Berg steigen können.
Der amerikanische Künstler Kehinde Wiley greift diese Problematik auf: Er übernimmt Friedrichs Bild fast exakt – allerdings ist sein Wanderer Schwarz und trägt Kleidung von heute. Wileys Gemälde ist zudem monumental groß, größer als ein barockes Herrscherbildnis. Auch ein politisches Statement!
Während der Covid-19-Pandemie war die finnische Künstlerin Elina Brotherus – wie viele – oft in der Natur unterwegs. Dabei entstand dieses Kunstwerk, in dem sie mit einem Wanderer-Beutel in Wanderer-Haltung auf einem Felsen posiert. Die Welt ist heute eine andere – und Friedrichs Wanderer ist Popkultur.
Vom Gipfel aus blickt der Wanderer ins Weite. Jede Reise verändert unsere Perspektive. Wir schauen anders auf unseren Alltag, auf uns selbst.
Wenn du jetzt in die Ferne schaust:
Was siehst du?